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Predigt
zum Gottesdienst am 11. und 12. Sonntag nach Trinitatis (01./08.09.2019)
und in der Glocke und in Kirchensall mit Taufe

Predigttext
Jeremia 1,4-10:

4.
Und des HERRN Wort geschah zu mir:

5.
Ich kannte dich, ehe ich dich
im Mutterleibe bereitete,
und sonderte dich aus,
ehe du von der Mutter geboren wurdest,
und bestellte dich
zum Propheten für die Völker.

6.
Ich aber sprach:
Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.

7.
Der HERR sprach aber zu mir:
Sage nicht: »Ich bin zu jung«,
sondern du sollst gehen,
wohin ich dich sende,
und predigen alles, was ich dir gebiete.

8.
Fürchte dich nicht vor ihnen;
denn ich bin bei dir
und will dich erretten, spricht der HERR.

9.
Und der HERR streckte seine Hand aus
und rührte meinen Mund an
und sprach zu mir:
Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.

10.
Siehe, ich setze dich heute über Völker
und Königreiche,
dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst
und bauen und pflanzen.

***

Hören Sie nun einen Ausschnitt eines Songs:

mp3   Audio-Einspielung (53")

Das waren „Die Ärzte“, ein Ausschnitt des Songs: „Schrei nach Liebe“:
„…deine Gewalt ist nur
ein stummer Schrei nach Liebe…
…und deine Eltern hatten niemals für Dich Zeit…“

Liebe Gemeinde, die „NSU“-Morde
liegen jetzt schon ein paar Jahre zurück,
aber der Rechtsruck und die Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft, sind geblieben. –

Wie wird jemand zum (Neo )Nazi,
liebe Mitchristen?

Warum schlägt oder erschlägt ein Mensch
seinen Mitmenschen,
wenn der eine dunklere Hautfarbe hat
oder obdachlos ist?

Pädagogen und Psychologen,
Kriminal- und Politikwissenschaftler
können eine Reihe von Gründen anführen.
Manche leuchten ein, andere nicht.

Doch eines scheint vielen Gewalttätern, Rechtsradikalen und anderen Verbrechern gemeinsam zu sein:

Sie besitzen zu wenig Selbstwertgefühl.

Schon die Eltern haben ihnen –
auch zuweilen durch Prügel –
meist vermittelt, dass sie nichts wert sind.
Und Schulversagen und Arbeitslosigkeit verschärfen die Erfahrung.

Ich weiß nicht, ob es inzwischen
keine Unterschiede mehr gibt zwischen ostdeutschen und westdeutschen Jugendlichen.

Aber vor ein paar Jahren war es noch so,
dass für heranwachsende Ostdeutsche
die Konfrontation mit den Wessis dazu kam,
die selbstsicher auftreten und deutlich sagen,
was sie wollen, beim Einkaufen
wie in der politischen Diskussion.

So verstärkt sich für manche Jugendliche das,
was schon vor der Wende da war, das Gefühl, Verlierer der deutschen Geschichte zu sein.

Mancher ostdeutsche Jugendliche kompensierte sein Unterlegenheitsgefühl nun
mit einem aufgesetzten Selbstbewusstsein.

Er behauptet, er sei „stolz, ein Deutscher zu sein“, und verachtet alles, was er für undeutsch hält.

Er gibt sich wie ein richtiger Mann,
trägt ultrakurze Haare und Bomberjacke
und hasst, was schwach aussieht. – Freilich,
auch wer in stabilen politischen und ökonomischen Verhältnissen aufwächst, erfährt:

Selbstvertrauen kann man nicht selber machen, geschweige denn kaufen.

Es entsteht im Menschen nur,
wenn er von anderen akzeptiert wird.

Es entwickelt sich, wenn andere
ihm etwas zutrauen.
Wenn ihm gesagt wird:
„Das hast du gut gemacht“ und:
„Mach das, - das kannst du“ –

so jedenfalls handelt ein weiser Pädagoge.

Und so behandelt Gott den Jeremia,
der an sich zweifelt.

Heute ist das ja sicher nicht mehr so – hoffentlich –, aber es soll Eltern gegeben haben,
die ihren Kindern oft den Mut nahmen
nach dem Motto:

„Das verstehst du nicht. Das kannst du nicht.
Dafür bist du noch viel zu jung.“

Gott dagegen ermutigt Jeremia.

Er traut dem jungen Mann etwas zu,
was dieser sich selber nicht zutraut.

Viele vermeintlich erfahrene Menschen
stellen eher die Risiken heraus
und werten die Chancen ab,
wenn junge Leute etwas unternehmen wollen.

Nun verschweigt auch Gott nicht
die Gefahren, die Jeremia drohen.

Doch er spricht ihm Mut zu.

Und Gott erinnert Jeremia an dessen Berufung.

Sie ist ihm schon in die Wiege gelegt.

Er muss ihr nur noch folgen.

Und Gott will ihm dabei helfen.

Wohl wird Jeremia eine Aufgabe zugemutet,
die ihm Angst macht.

Auch wenn Gott ihm sagt:
„Fürchte dich nicht vor ihnen,
denn ich bin bei dir, und ich will dich erretten.“ –

doch gerade dieser Satz macht Angst.

Denn wenn Gott mir Rettung zusagt
vor Menschen, dann muss die Aufgabe,
die er hat, doch recht gefährlich sein.

Wer würde sich so ein Leben freiwillig aussuchen? – Jeremia litt unter seiner Berufung:

„Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin“, so klagt er, und:
„Warum währt doch mein Leiden so lange
und sind meine Wunden so schlimm,
dass sie niemand heilen kann?“

„Alle meine Freunde und Gesellen lauern,
ob ich nicht falle.“ –

Offensichtlich ist das Leben voller Leiden,
liebe Gemeinde.

Die Geschichte der Menschheit
ist voll der Leidensgeschichten.

Die Geschichte der Kirche
beginnt mit einer Leidensgeschichte.

Die Christen im Sudan, in der Türkei,
in China und anderswo,
können auch heute davon erzählen.

Und wenn wir in das Alte Testament hineinschauen,
dann entdecken wir da nicht nur
den leidenden Jeremia,
sondern auch einen Mose,
der gegen seinen Willen berufen wird,
und einen Jona,
der vor dieser Aufgabe davon läuft
und dennoch Gottes Auftrag nicht entkommt.

Da kann man schon fragen:
Gott, bist du nicht ein Gott des Friedens?

Hast du nicht selbst gesagt,
dass du Gedanken des Friedens
und nicht des Leides mit uns hast?

Du bist doch unser Vater!

Muss es denn wirklich sein,
dass Menschen in deinem Dienst
so unter Druck geraten?

Muss es denn wirklich sein,
dass Menschen, die zu dir gehalten haben,
auf dem Scheiterhaufen landeten?

Dass du deine Frommen immer wieder
durch ein finsteres Tal führst,
heimsuchst bei Nacht,
dahin führst, wo sie ganz bestimmt nie
hingewollt haben?
Muss das wirklich so sein?

Gottes Boten aber zeichnen sich dadurch aus, dass sie bereit sind, die Leiden zu tragen.

So wie schon von dem Knecht Gottes
im Alten Testament gesungen wird:

„Fürwahr, er trug unsere Krankheit
und litt unsere Schmerzen.“
(Jesaja 53,4)

So, wie wir das an Jesus Christus ablesen können, so wie das ein Pater Kolbe und Dietrich Bonhoeffer und manch andere taten.

Daran erkennt man die Echtheit der Botschaft, dass die Boten bereit sind,
durch die Tiefen zu gehen,
selbst zu gehen
und nicht andere hineinzuschicken
oder mit hinein zu reißen. –

Und so erhält auch ihre Botschaft
den rechten Tiefgang.

Sicher, dass Gott zu einem Menschen
direkt spricht und ihn zum Propheten beruft,
war schon in alttestamentlicher Zeit
die Ausnahme.

Doch heute gilt wie damals:

Jede Frau und jeder Mann hat eine Berufung.

Das heißt, jedem Menschen
hat Gott eine Begabung geschenkt
und eine Aufgabe anvertraut,
die er erfüllen kann und die dem Leben Sinn gibt, selbst dann noch,
wenn es durch ein Tal des Leidens geht.

Was das ist, liebe Gemeinde,
muss jede/r Einzelne von uns selbst herausfinden.

Und dies dauert oft
anders als bei Jeremia
ein ganzes Leben.

Dabei haben andere, Eltern und Lehrer,
Freunde und Kollegen, Psychologen und Pfarrer, eine wichtige Aufgabe.

Sie können, sie sollen ihrem Nächsten als Geburts- und Entwicklungshelfer dienen.

Aber nicht nur professionelle Berater, nein,
jeder Mensch kann und soll beim Mitmenschen Fähigkeiten wecken und fördern.

Dazu gehört auch das Lob für das, was gelingt. „Positive Verstärkung“ nennen das die Pädagogen.

Dies leuchtet ein und ist doch alles andere
als selbstverständlich.
Wie oft habe ich mir selber schon vorgenommen, jemandem zu schreiben,
der öffentlich etwas sagte oder tat,
was ich gut fand.

Doch dann hatte ich irgendwie keine Zeit.

Wenn ich dagegen kritisieren will,
reagiere ich schnell und energisch.

Eine schwäbische Untugend:
nichts sagen oder höchstens: „nicht schlecht“ – das ist des Schwaben höchstes Lob.

Dabei weiß jede/r aus eigener Erfahrung:
Kritik ist gut, Lob ist besser.

Elternhäuser und Schulen,
Vereine und Kirchen, die das beherzigen,
können Gewalttaten vorbeugen!

Sie bringen selbstbewusste
und selbstsichere Menschen hervor,
die eher bereit sind, Leiden auf sich zu nehmen, als anderen welches zuzufügen.

Und sie können Mitmenschen tolerieren,
die anders aussehen, glauben, denken,
fühlen und leben.

Warum sprechen uns denn die Lieder
eines Paul Gerhardt so stark an
oder eines Dietrich Bonhoeffer?

Warum haben sie denn nach Jahrzehnten
oder gar nach Jahrhunderten
uns immer noch etwas zu sagen?

Doch darum, weil hinter ihrem Leben
eine Erfahrung mit Gott steht,
gepaart mit der Erfahrung des Leides.

Das kann man nicht aus Büchern lernen.

Das vermittelt kein theologisches Examen.

Freilich, keiner von uns ist Jeremia.

Keinem von uns ist es zu wünschen,
dass er durch solche Tiefen gehen muss.

Aber die Kirche Jesu Christi –
und das sind wir doch alle, die wir hier sind –
diese Kirche Jesu Christi
ist immer wieder aufgerufen,
„auszureißen und einzureißen,
zu bauen und zu pflanzen“,
so wie es hier in unserem Text heißt.

Der Prophet spricht aus, was Gott dann auch tut: Gott lässt leben und sterben,
lässt blühen und verwelken.

Von ihm kommt beides „…Freud und Leides…“

Wir können verstehen, dass Jeremia
sich wehrt gegen einen Auftrag,
der ihm nur Ärger und Undankbarkeit einträgt.

Wir wehren uns ja auch dagegen.

Auch wir sind gleich bei der Hand zu sagen,
auch wenn es nicht um Kopf und Kragen geht:
Ich bin zu jung oder zu alt. –

Warum soll ich mir Ärger einheimsen?
Habe ich nicht sonst schon genug am Hals?
Soll ich mir das auch noch antun?
Und wer von uns könnte schon sagen
wie Jeremia:

„Gott hat mir sein Wort in den Mund gelegt“? Woher nehme ich denn das Recht, mich hinzustellen und zu sagen:
Das, was ihr da macht, das ist nicht in Ordnung?

Doch sind wir nicht alle getauft?

Sind wir nicht hineingeboren durch unsere Taufe zu einem verantwortlichen Glied am Leibe Christi?

Haben wir nicht bei unserer Konfirmation
dazu unser Jawort gegeben?

Drängt uns nicht das Wort Gottes,
der Gemeinde Schädliches abzubauen,
um Neues zu pflanzen?

Stehen wir nicht als Evangelische hier in einer guten Tradition?

Wir können es doch nicht machen
wie jener Schiffsreisende:
Als sein Sohn in die Kajüte stürzt und ruft:
Vater, das Schiff geht unter!
Da soll er gesagt haben:
Was regst du dich denn auf?
Das Schiff gehört mir doch gar nicht.

Wir sind Teil des Volkes Gottes.

Es geht um unsere Kirche.

Es geht um unsere Gemeinde/Gemeinschaft.

Wie können wir unseren Beitrag leisten,
gegen die Fehleinstellung mancher Mitmenschen, die diese positive Zuwendung
bisher zu wenig erhalten haben?

Wir sind aufgerufen, Bauleute zu sein
am Reiche Gottes,
Bauleute mit Mut, Phantasie und Liebe.
Das ist Eure Aufgabe, als Eltern von Marla – und das ist unser aller Aufgabe!

Amen

 

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